11. Juni 2009
Scott Walker - The Drift
Scott Walker ist eines der letzten Genies unserer Zeit. Zurecht hat Stephen Kijak den Mann aus Ohio in seiner 2006 erschienen Dokumentation „The 30th Century Man“ mit der Mythengestalt des Orpheus verglichen. Dieser Urvater aller Musiker zieht im Mythos in die Unterwelt, um seine Geliebte Euridice durch sein Lyraspiel dem Hades abzutrotzen. Bekanntermaßen scheitert Orpheus aber an der letzten Aufgabe, sich beim Rückweg an die Oberwelt nicht nach seiner Geliebten umzudrehen. Und so ist das letzte was er sieht, wie die Liebe seines Lebens auf alle Zeiten in den bibelschwarzen Abgrund zurückgegerissen wird.

Mit „The Drift“ (2006, 4AD) kehr Scott Walker aus der Unterwelt zurück und was er von seiner Reise ins Reich des Todes zu erzählen weiß, schlägt er im Ton einer verstörenden, düsteren und zutiefst zwingenden Avantgarde an. Seine beiden letzten Alben „Climate of Hunter“ (1983, Virgin Records) und „Tilt“ (1995, Fontana Records) setzen hierfür in gewisser Weise die Wegmarken. War ersteres noch ein 80er Jahre Popcolorit und zweiteres ein bukolitisches Memento und die erste Platte des 21. Jahrhunderts, so ist „The Drift“ schließlich die völlige Absage an die Musik der Unbekümmerten.

Die Eröffnung mit Cossacks Are nimmt sich mit seinen Gitarrenglissandi noch als eines der wenigen Stücke aus, die auf dem Album am ehesten einem, wenn man so sagen kann, konventionellen Aufbau gehorchen. Doch dieser Versuch noch ans Alte anzuknüpfen wird sofort mit Clara verworfen, einer 12minütigen arythmischen Klangmontage aus Streichern, Holzbläsern und den mittlerweile zur Legende gewordenen Purcussions, deren bizarre Geräusche einer mit den Fäusten malträtierten Schweinehälfte entstammen.

Überhaupt kommt in „The Drift“ Walkers eigentümlicher Hang zur skurrilen Klangerzeugung zum tragen. In Jolson and Jones ist es der Schrei eines Maultieres, Psoriatic ein Blecheimer der über Holz schrammt und in The Escape sind es die abseitigen, undefinierbaren Geräusche einer monströsen Inkarnation eines bösartigen Donald Duck, der gerade aus der Hölle entsprungen, seinen Vernichtungszug antritt. Walker ist ein Meister der Unterbrechung, der seine metaphysischen Klangteppiche schockartig durch die Einbrüche apokalyptischer Orchesterarrangements zerreißt, um kurz darauf wieder in ein klaustrophobisches Schwiegen zurückzufallen.

Es ist schwer zu sagen, was dieses Werk zu einem so herausragenden Stück Musikgeschichte macht; der Aufwand einer zwanzigköpfigen Musikercrew, die verstörenden asymmetrischen Songstrukturen, Scott Walkers unvergleichlich synergetische Stimme. „The Drift“ verlangt seinen Zuhörern jedenfalls so ziemlich alles ab. Dieses Album ist echte Hörarbeit. Sollte eine Vertonung der Apokalypse möglich sein, so hat Walker sie auf seinem Weg aus der Unterwelt mitgebracht. „I'm the onlyone left alive“, eine Zeile aus dem Stück Jesse, lässt sich in diesem Sinn programmatisch verstehen. Wenn von der Welt nur noch die zerstückelte Vision eines Hieronymus Bosch Gemäldes übrig ist, dann ist „The Drift“ sein klangliches Spiegelbild.

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