19. Januar 2006
Film-Gedächtnis
Der niederländische Psychologiehistoriker Douwe Draaisma hat in seinem Buch "Die Metaphernmaschine - Eine Geschichte des Gedächtnisses", herausgestellt, dass die Gedächtnisforschung einer jeweiligen Epoche stehts die vorherrschenden Medientechniken als Erklärungsmodelle zu Rate gezogen hat. So zeichnet er, in dem er die Metapher als heuristisches Instrument der kognitionspsychologie bestimmt, den Weg der Denkbilder nach, die von Platons Wachstafel über Fludds Gedächtnistheater, die Schrift, das Mikroskop, nach dem Niedergang des Mechanizismus in der Romantik die Landschaft, bis hin zum Phonographen und schließlich zur Gehirnmetapher neuronaler Netzwerke reicht.

Draaisma legt den Schwerpunkt seiner Untersuchungen dabei auf die jeweilige Beeinflussung psychologischer Kategorien durch die Medientechnik. Er zeigt aber auch, wie beispielsweise im Fall der Hologramm-Metapher der umgekehrte Fall eingetreten ist, und die Psychologie die entscheidende Wende zur Begriffsbildung markiert.

Interessant ist dabei für meine Arbeit, dass Draaisma zwar die Photographie, den Phonographen und später auch den Computer in aller Ausführlichkeit behandelt, jedoch dem Film als Gedächtnismetapher nur beiläufige Bedeutung beimisst, obwohl gerade der Film, nach Benjamins berühmtem Traktat, ein bewußtseinveränderndes Potential hat. Im Anschluss daranstellt sich mir die Frage, ob es eine Verständigung über das Gedächtnis, das Erinnern und das Vergessen gibt, die nur vor dem Hintergrund des Films relevant sind.

An dieser Stelle Blicke ich freilich wieder in die Richtung Freuds. Nicht nur, dass sich die freudschen Begriffe, der Latenz, der Deckerinnerung, des Wiederholungszwangs etc. auf filmische Inhalte anwenden lassen, sie lassen sich ebenso auf die Strukturen des Mediums beziehen. Nimmt man den Film beispielsweise unter dem Gesichtspunkt von Schnitt und Montage in den Blick, so ließe sich die vorsichtige Vermutung anführen, dass hier ähnliche mechanismen wirken, wie bei der identifizierenden Nacherzählung eines Individuums (siehe "Narrative Identität").

Eine weitere Sache ist mir aufgefallen, die mir zunächst nicht wichtig vorkam: Freud hat als Zeitgenosse des Films dieses Medium nie in seine Theorie mit aufgenommen, obwohl er ein Meister der Bildersprache war und oft und viele Metaphern verwedet hat. Auch hier die zunächst Vorsichtige Vermutung, ob die Verdängung des Films aus den Schriften Freuds nicht einem anderen Begehren den Vorzug gegeben haben könnte.

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Vielleicht kann ich wenigstens bei Benjamin etwas weiterhelfen:
Du kennst vielleicht den Text von Wetzel, der Benjamins Begriff der Interliniearübersetzung mit der Mechanik des Films in Beziehung setzt: http://www.uni-konstanz.de/paech2002/zdk/beitrg/Wetzel.htm

Die Freudexegese Benjamins wird übrigens von Sigrid Weigel: "entstellte Ähnlichkeit" genauer unter die Lupe genommen. Und das auch bei besonderer Beachtung seines Gedächtniskonzepts.
Dann bist du bei Entstellung, Mimesis etc., biegst von dort auch die „Sprache des Glücks“ ab, die den Augenblick mit der Anamnese des gelebten verbindet, streifst das Eingedenken in den Geschichtsthesen.
Von hier lässt sich mit einem eleganten Schwenk auf den Kunstwerkaufsatz dieser Bezug (Gedächtnis-Film) vielleicht dann gut herstellen.

(das schöne an Benjamin ist, man kann ihn für alles mißbrauchen ;-) )

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Wow. Scheinst schonmal über Benjamin gearbeitet zu haben? Vielen Dank, den Weigel Aufsatz kenn ich, hab den im Zuge von Wetzels Benjaminseminar 04/06 gelesen. Der Tip mit der" Sprache des Glücks" ist echt interessant, ich kenn den Aufsatz garnicht. Ist der auch von Weigel?

Es wäre unter diesen Vorraussetzungen dann auch wichtig sich mit dem Begriff des "Bucklicht Männlei" auseinander zu setzen, der bsp. im letzten Kapitel der Berliner Chronik vorkommt. dieses Männlein lässt sich hervorragen als Metapher für das Vergessen heranziehen und berührt gleichzeitig das "Homunkulus"-Problem in der kognitiven und konnetionistischen Gedächtnisforschung.

Darin liegt nähmlich ein wichtiger Aspekt, der Film und Gedächtnis zueinander in Beziehung setzt: das Filmische und individuelle Vergessen. Es wäre jetzt interessant herauszufinden, was die Filmindustrie mit den Fragmenten eines Films anstellt, die nicht in die "Erzählung" Einzug gehalten haben...werden die ebenso archiviert, wie die Filmrollen?

Danke für den Tip mit dem Wetzel Aufsatz.

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(ich glaube du meinst Berliner Kindheit 1900, oder?) Das Bucklicht Männlein ist vor allem auch im Kafkaessay beschrieben. Dort kommt dann die Entstellung als Form des Vergessens ja voll zum tragen.
Aber wie das bei Benjamin halt so ist, widerspricht sich das alles vollkommen, wenn man den Proustessay (Zum Bilde Prousts) gegenliest. Dort ist die Entstellung eine Form von Erinnerung. Hier ist dann auch der Wille zum Glück gleich dabei, der das Gewesene mit dem aktuell Gelebten verbinden will, im Vordergrund.
Das alles kommt dann immer unter dem Label "Glück" bzw. als "Sprache des Glücks" in weiteren Texten vor:
Agesilaus Santander, Der Weg zum Erfolg in dreizehn Thesen, der Begrif der Geschichte, etc.
Alles sehr unbestimmt, mysteriös und deutungsbedürftig. Also perfekt für deine Zwecke ;-)

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aha. Ich bin auf den Terminus "Sprache des Glücks" bis jetzt nicht gestoßen, oder er ist mir nicht aufgefallen. Ist aber ein Guter Hinweis. Werd der Sache nachgehen. Sehr passend, dass B. von Entstellung spricht. Das passt sehr gut mit einem anderen Buch zusammen das ich gerade oder wieder lese: Daniel Schacter: Wir sind Erinnerung. Dort wird der Prozess der "Entstellung" aus sicht der Gedächtnisforschung untersucht....ja so langsam fügt sich ein recht passables Bild des Problemfeldes zusammen......

Benjamin ist ein exqusiter Steinbruch:)

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Hört sich alles sehr interessant an. Würde die Arbeit gerne Lesen wenn sie fertig ist. Gibt’s dann hier ein verlinktes PDF?
Was die Sprache des Glücks angeht, halte ich das für einen eminent wichtigen Aspekt, jedenfalls war er es für Benjamin. Weigel hat ihn unter den Tisch fallen lassen, obwohl er überall eng mit dem verknüpft ist, wovon sie schreibt. Aber Weigel ging es ja eher darum ein kohärentes Bild von Benjamin "Theorie" zu zeichnen. Eine Kohärenz die es nie gegeben hat, von einer "Theorie", die als Sammlung weit verstreuter Fragmente in verschiedensten Texten nur durch Wortähnlichkeiten miteinander verbunden sind und die eigentlich nur eine Aneinanderreihung von blumigen Assoziationen ohne theoretisches Fundament bilden. Es gibt keine Gedächtnis-Theorie Benjamins. Er jedenfalls hat sie nie formuliert. Aber was nicht ist kann ja noch werden …

Viel glück noch.

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Ich muss mal schauen wie das mit dem PDF aussieht. Falls der Artikel tatsächlich gedruckt wird (was ich zu diesem Zeitpunkt noch für sehr unwahrscheinlich halte) wird das mit dem PDF ne Weile dauern. Falls nicht gibts klaro n Link:) Ich werd aber desshalb nochmal offiziell Bescheid geben.

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